Liquid Democracy

Was für eine wunderbare Kombination von Adjektiv und Nomen! Obwohl ich bei Liquid immer erst an Drogen und den Film „Enter the Void“ denken muss. Das ist nicht schlimm, weil Liquid Democracy ist Rausch und Virus zugleich. Die Silbe Demo assoziiere ich stets mit gesundem Protest. Also nicht in dem Sinn von Wut und Blockade, sondern mehr in der Richtung von Aufstehen, Einbringen und Farbe zeigen. Eine weitere Assoziation ist Chinese Democracy, das letzte Album von Guns N’Roses. Es ist nicht vergleichbar mit den unbeschreiblichen Werken „Appetite for Destruction“ oder „Use your Illusion“, und dennoch ist das Album weit besser als sein Ruf. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Liquid Democracy, auf Deutsch klingt der Name genauso schön, flüssige Demokratie.

Static Democracy

Demokratie ist tatsächlich eine schöne Sache. Eigentlich handelt es sich um ein uraltes Konzept. Angefangen hat alles mit den Griechen in der Antike. In Athen konnte jeder Vollbürger zu allen Fragen seine Stimme abgeben. Und zwar direkt und nicht über Umwege wie Delegation. Man hatte nicht nur eine Stimme, sondern auch ein Rederecht. Dieses politische System wird heute als attische Demokratie bezeichnet. Das war übrigens noch vor der Geburt von Jesus Christus. Es gab damals auch schon eine Außen- und Sicherheitspolitik. Das ist alles ganz schön beachtlich.

Es hat noch einige hundert Jahre und dunkle Kapitel gedauert bis sich die Demokratie nach vielen Rückschlägen flächendeckend durchgesetzt hat. Gemeinhin hält man die Demokratie als das ultimative Rezept, um dem Volk die Herrschaft über sich selbst einzuräumen. Den Kontrast dazu bilden Diktaturen und Monarchien, bei welchen nicht das Volk regiert, sondern gegebene Einzelpersonen. Demokratie in einem Staat kann sich von Innen entwickeln (das heißt, eigentlich von unten). Aber auch Zwangsdemokratisierung von Außen ist mittlerweile schwer in Mode gekommen. Einmal Demokratie, muss nicht Demokratie bleiben. Manchmal geht es auch schief und endet schlimmstenfalls in einer Machtergreifung wie 1933.

Heute leben wir in Deutschland in der repräsentativen Demokratie. Die genaue Funktionsweise ist viel komplizierter als man denkt. Es gibt Gemeinden, Kreise, Bezirke, Länder, Bund und Europa. Jede Ebene hat eigene Spielregeln und alles ist miteinander vernetzt. Ein Laie kann all die Zusammenhänge spontan meistens gar nicht richtig erklären. Aber wie bei jeder richtigen Demokratie liegt der Grundgedanke auf allen Ebenen letztlich in den freien Wahlen. Die Wahlen sind nicht nur frei, sondern auch geheim. Jede Stimme zählt gleich. Und man kann nicht nur wählen gehen, sondern man kann auch gewählt werden. Das klingt schon mal alles ziemlich gut. Auf der Metaebene sind wir damit eigentlich auch sehr zufrieden. Operativ sieht das aber anders aus. Denn das System hat Bugs.

Error Reporting

Der Kern des Betriebssystems ist die Freiheit der Wahlen. Wir können selbst entscheiden, wen wir wählen. Niemand schreibt es uns vor. Wir können die Wahl genauso treffen, wie wir wollen. Abhängig von unserer Lebenssituation können wir unsere Wahl ändern und uns immer wieder neu entscheiden. Nur, und das ist ein Problem, das geht in der Regel nur alle vier Jahre. Alle 1426 Tage dürfen wir einmal wählen. Wenn wir einmal die Wahl getroffen haben, müssen wir wieder 1426 Tage warten, um unsere Wahl zu ändern. Das ist eine sehr lange Zeit, da kann viel passieren. Die Welt kann sich durch Finanzkrisen und Terrorismus komplett drehen. Und wir drehen uns mit, ohne Einfluss auf die Richtung zu haben.

Wenn wir dann irgendwann einmal wählen dürfen, fühlt es sich an wie an Feiertagen im Restaurant. Die Speisekarte besteht aus festen Menüs mit mehreren Gängen. Dieses limitierte Angebot hat natürlich seinen Grund. Diese Struktur bringt Vorhersehbarkeit. Die Küche kann sich entsprechend vorbereiten und somit werden lange Wartezeiten in der Regel vermieden. Immerhin darf man manchmal Sonderwünsche abgeben und die Nachspeise gegen ein Dessert aus einem anderen Menü austauschen. Bei politischen Wahlen ist das aber nicht erlaubt. Es gibt mehrere fertige Pakete zur Auswahl und das war’s. Hinter jedem Paket steht ein Programm. So ein Programm besteht nicht auf fünf Gängen, sondern manchmal aus bis zu hundert Seiten Fließtext randvoll mit politischen Positionen. Es ist kaum anzunehmen, dass uns in einem solchen Menü alles schmeckt. Aber wir können trotzdem nicht Positionen aus unterschiedlichen Programmen kombinieren, sondern nur ein fertiges Paket auswählen. Sonderwünsche sind nicht erlaubt. Letztlich bedeutet es, dass man mit seiner eigenen Stimme immer auch für Wege plädiert, die man gar nicht gehen möchte, im schlimmsten Fall sogar bekämpft.

Das ist aber noch nicht alles. Wir wählen nämlich nur indirekt. Hinter jedem Programm stehen Menschen und das sind unsere Kandidaten. Sie stehen zur Wahl und wir geben ihnen unsere Stimme. Die nächsten vier Jahren gehört ihnen unsere Stimme. Wir delegieren unsere Macht also auf eine andere Person, welche damit nun beliebig verfügen kann. Die Person wählt (für uns) bei den richtigen Wahlen, in welchen es um konkrete Einzelfragen geht. Wir schauen nur zu und hoffen, dass der Politiker unsere Stimme auch in unserem Sinne einsetzt. Das muss nicht so sein, denn auch diese Wahlen sind frei. Ganz oft bekommen wir Pizza, obwohl wir Spaghetti bestellt haben.

In einer Abstimmung im Bundestag ist unsere Stimme letztlich nicht mehr erkennbar. Sie ist durch Parteipolitik, Kompromisse und Interessen transformiert. Dafür trägt niemand eine Schuld, denn diese Mechanismen ergeben sich aus dem System. Wir haben dafür natürlich Verständnis. In der Folge entsteht in der Gesellschaft trotzdem eine Politikverdrossenheit, die immer sehr gefährlich ist. Dieser Sachverhalt ist aber nicht die ganze Wahrheit. Denn wir haben Ideen, wir haben Meinungen, wir haben Ideale. Aber wir finden sie in der alltäglichen Politik nicht wieder. So entsteht Frust und irgendwann wenden wir uns ab.

Flüssige Demokratie

Wir müssen einen Schritt weiter gehen. Das System braucht ein Update. Zu viele Fehler drin. Und jetzt kommt Liquid Democracy als Service Pack ins Spiel. Dabei geht es nicht um Zerstörung, Umbau oder Neubeginn. Es geht um Erweiterung. Mitbestimmung ist ohne Alternative und das ist gut so.

Zuerst sei die Frage gestellt, warum bin ich? Warum wählen wir indirekt und geben unsere Stimme an Delegierte, welche uns im politischen Prozess vertreten? Natürlich hat dies seinen Grund. Die Welt ist kompliziert. Die Probleme sind kompliziert. Die Lösungen sind kompliziert. Und diese Komplexität überfordert uns. Jeder Mensch ist Experte in einem ganz spezifischen Thema. Die Gesellschaft ist aber nicht ein Thema, sondern hunderte von Themen. Auf all die vorliegenden Fragen haben wir keine Antworten. Manchmal interessiert es uns auch gar nicht. Letztlich scheitert es auch an der Zeit. Wir haben unser eigenes Leben. Unsere Berufe, unsere Familie, unsere Hobbys. Da bleibt keine Zeit, sich in komplexe Themengebiete hineinzudenken. Wir lesen viel lieber ein Buch auf der Coach. Oder gehen in Kino. Deshalb haben wir die Delegierten. Die Aufgabe des Delegierten ist es, sich mit all die vielschichtigen Sachfragen ganzheitlich zu beschäftigen. Und so können wir in Ruhe weiterleben. Das ist repräsentative Demokratie. Flüssige Demokratie erhält diese Systematik. Aber es kommt noch etwas zu.

Ich kann nämlich selbst wählen, wenn ich das möchte. Ich muss meine Stimme nicht dauerhaft auf Delegierte übertragen. Ich kann jederzeit darüber entscheiden, meine eigene Stimme auch direkt zu nutzen. Es ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Als konservativer Mensch gibt man seine Stimme in der Regel einer konservativen Partei. Ist man jetzt auch noch schwul dazu, geht man lieber selbst wählen, wenn die Homo-Ehe zur Abstimmung steht. Die Stimme kann also im Einzelfall jederzeit wieder zurück auf den Wähler gehen, der nun persönlich und direkt an der Wahl teilnehmen kann. Stimmen können beliebig delegiert werden. Nicht nur etablierte Parteien haben Expertise. Auch in meinem Freundeskreis gibt es Experten. Diese Personen haben einen entscheidenden Vorteil. Ich vertraue ihnen. Und deswegen besteht die Möglichkeit, meine Stimme komplett oder in spezifischen Sachfragen auf sie zu übertragen. Und diese Personen können die delegierten Stimmen ebenfalls im Bedarfsfall weiterdelegieren, so dass sich eine größere Aggregation manifestiert.

Es entsteht also ein ständiger Fluss von eigener Teilhabe und wechselnder Delegation. Und deswegen heißt dieses Konzept auch flüssige Demokratie.

Technology is required

Natürlich ist Liquid Democracy über physische Präsenz nicht zu Verwirklichen. Aber diese Notwendigkeit besteht auch nicht. Im Moment gibt es zwei Möglichkeiten der Teilhabe. Einerseits das Wahllokal, anderseits die Briefwahl. Bei der Briefwahl wird die Stimme durch eine Technologie (Logistik) zur Zählstelle transportiert und dort ausgewertet. Letztlich braucht es für Liquid Democracy den gleichen Mechanismus. Nur ist die Technologie nicht Logistik, sondern der Computer und das Internet. Es braucht also eine spezifische Software, welche alle Stimmen zusammen bringt.

Erste Plattformen sind verfügbar. Beispielsweise LiquidFeedback, die OpenSource Software des Berliner Vereins Public Software Group. Der Verein Liquid Democracy publizierte eine weitere Variante namens Adhocracy als Service in der Cloud. Diese Plattformen geben eine grobe Idee, wie das Konzept der flüssigen Demokratie aussehen kann.

Für viele wichtigen Fragen gibt es bisher noch keine ausreichenden Antworten. Wie kann man Manipulation sicherstellen? Wie kann man eine sichere Authentifizierung vornehmen? Wie kann die Wahl trotzdem geheim sein? Wie können Personen ohne entsprechende Ausstattung ebenso teilnehmen? Solche Detailfragen können große Ideen sehr schnell zerstören. Sie sollten uns aber nicht aufhalten, diesen Weg weiterzugehen. Wir werden irgendwann Antworten auf diese Fragen finden.

Die Piratenpartei ist die erste Partei in Deutschland, welche sich Liquid Democracy formell in das Programm geschrieben hat. Dabei geht es nicht darum, das politische System morgen abzuschaffen. Es geht mehr darum, diesen Weg weiter zu gehen und zu experimentieren. Erfahrungen zu sammeln, Probleme zu entdecken, Lösungen zu finden. Es ist eine Vision auf dem Weg in die Umsetzung. Die Piraten haben Mut und trauen sich. Aber nicht nur die Piratenpartei. Das Konzept ist derart sexy, dass sich dazu in jeder Partei einzelne Projekte finden. Der Zukunftsdialog der SPD, Meinungsbildung bei der grünen Jugend, die elektronische Programmdebatte in der Linkspartei, selbst die AfD nutzt Liquid Democracy, nur die CDU wehrt sich vehement. Letztlich ist es aber nur Angst. Angst vor Verlust und der Verlust der Kontrolle ist sicher.

Die Stimme in mir

Eine flüssige Demokratie bricht mit vielen Dingen, an die wir uns gewöhnt haben. Jahrelang gereifte Machtstrukturen wie sie heutzutage in Parteien gegeben sind, könnten sich in dieser Substanz gar nicht bilden. Und das ist gut so. Macht ist nun eigentlich grundsätzlich nichts schlechtes. Problematisch ist nur der Machtmissbrauch. Und Machtmissbrauch wird sich auch durch die flüssige Demokratie nicht verhindern lassen. Jedoch tritt die Konsequenz unmittelbar ein. Denn wer Macht missbraucht, verliert Vertrauen und damit unmittelbar die aggregierten Stimmen. Macht wird zu Wasser und fließt.

Das wahre Schönheit der Liquid Democracy ist aber das Geräusch der eigenen Stimme. Sie wird immer gehört. Und niemals transformiert. Sie geht nicht verloren. Sie ist immer da und hat gleichbleibendes Gewicht. Es ist nicht nur die Stimme, es sind wir. Du, sie und ich. Wir alle zusammen. All die Jahre wuchs die Entfremdung in uns, gegenüber einer Politik, die wir nicht mehr verstanden, die uns nicht mehr verstand. Eine ausgesprochen traurige Tragödie. Aber jetzt haben wir dafür ein Medikament, Liquid Democracy.

Links
Enter the Void
Adhocracy
Liquid Feedback
Piratenpartei Deutschland

Über den Autor
Marco Hitschler wohnt in Mannheim und schreibt auf diesem Blog beliebige Texte in das Internet hinein. Sein Handwerk ist die Informatik und beruflich arbeitet er im Projektmanagement. Wenn man einmal mit dem Bloggen angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören. Furchtbar! Infolgedessen wird auf diesem Blog ganz kunterbunt in verschiedenen Formaten publiziert.
6 Kommentare
  1. Kiat Gorina 21. September 2013

    Bei der Präsenzwahl im Wahllokal hat sich herausgestellt, dass auch in Deutschland offensichtlich gefälscht wird. Das Hauptproblem dürfte sein, die Manipulation durch Wahlhelfer zu verhindern und eine Nachprüfbarkeit zu gewährleisten!

  2. Nicole Stroschein 3. Mai 2014

    Genau das ist es! Und dies ist genau einer dieser Texte, die mich meinen Hut vor dir gleich mehrfach ziehen lassen :)

  3. marco 4. Mai 2014

    @Nicole
    Danke. Ich weiß nicht richtig, was ich darauf antworten soll. Bin sprachlos. :-)

  4. Guru Meditation 10. September 2016

    […] auch schon politische Hoffnungsträger, welche das Problem nicht nur erkannt, sondern auch gleich neue und innovative Konzepte auf den Tisch gelegt haben. In diese Newcomer wie beispielsweise die Piratenpartei haben wir so […]

  5. MoD 5. September 2017

    sehr schön, danke. Nur sollte man das Wort „Delegation“ vermeiden, weil es sich in Wahrheit um jederzeit zurückziehbare Vollmachten handelt

  6. marco 5. September 2017

    Dankeschön! Ja, das stimmt natürlich. Bei diesem Konzept kann die „Delegation“ jederzeit zurückgezogen werden. Das ist oben zwar erwähnt, aber nicht explizit herausgestellt worden.

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