Real Life ist Fake Life

Dabei hat alles so schön angefangen. Die Tweets waren geistreich, humorvoll und selbstbewusst. Ist das nicht eine wunderbare Kombination? Das macht Lust auf mehr. Die Lust darauf, den Menschen dahinter zu entdecken. Und diese Magie blieb auf anderen Kanälen ebenso erhalten. Das Profil auf Facebook war beruhigend normal und gewöhnlich. Die Fotos auf Instagram dagegen bunt und lebendig. Die erste Kontaktaufnahme, immer schwierig, aber es kam eine Nachricht zurück. Schritt für Schritt einen Menschen kennenzulernen, das ist einfach wunderbar. Genauso wunderbar ist die Vorstellung dieses Menschen, die man in seinen Gedanken entwickelt. Die vielen kleinen Mosaiksteine, es ist aufregend und spannend. Irgendwann beginnt jedoch diese Fassade zu bröckeln, Risse entstehen und in kleinen Schritten kommt etwas ganz anderes zum Vorschein. Nichts war gelogen, aber jede weitere Information verändert rückwirkend die Gesamtkonstruktion. Das Bild in meinem Kopf. Es war nur Fake. Das war zwar ein Mensch, aber ein ganz anderer Mensch.

Virtuelle Identität

Ja, das kann passieren. Nicht nur uns, sondern auch den anderen. Unsere Identität im Internet, sie ist frei. Wir können, im Unterschied zum echten Leben, aus unserer Haut heraus. Wir können jemand anderes sein. Wir können endlich genau so sein, wie wir gerne sein möchten. Wir können endlich genau das machen, wozu wir in der Wirklichkeit nicht den Mut haben. Alles ist anonym und wir sind in dieser Anonymität geschützt. So fühlt sich das also an, ein Leben ohne Angst. Unsere Identität, das sind unsere Worte, das sind unsere Bilder. Wir schaffen uns hier und jetzt eine zweite Identität, einfach so, eine Identität, die nicht nur für die anderen existiert, sondern auch für uns selbst. Wir schneidern uns eine zweite Haut, in die wir bei Bedarf immer schlüpfen können. Wir bauen uns ein Second Life, um die Defizite im echten Leben auszugleichen. Am Ende gibt es nur zwei Nachteile. Es ist letztlich eine Lüge und die künstliche Identität ist auf ihre Wirkungsstätte begrenzt. Das Spiel mit dem eigenen Ich hat also keine wirkliche Perspektive.

Soweit die Theorie, in der Praxis spielen aber wir nicht mit den virtuellen Identitäten. Wir bauen uns keine weitere, andere Persönlichkeit. Wir nehmen keine Eigenschaften in Anspruch, die wir selbst nicht haben. Wir sind im Internet nämlich weitgehend genauso wie im echten Leben. Mittlerweile trauen wir uns sogar, namentlich und mit Bild aufzutreten. Vor zehn Jahren war das noch anders. Mit dem richtigen Namen im Chatroom schreiben, undenkbar. Web 2.0 und die sozialen Netzwerke haben diese Kultur komplett gedreht. Das Internet ist menschlicher geworden. Von den Menschen und für den Menschen. Wir sind uns alle ein Stück näher gekommen. Eine schöne Entwicklung. Und trotzdem passiert es immer wieder, jemand fasziniert und zieht uns in seinen Bann, aber am Ende war es nur ein Fake und die Magie verliert sich. Wir sind enttäuscht. Wir wenden uns ab. Wir gehen weiter.

Irgendwie komisch. Obwohl wir echt sind. Wir sind im Netz genauso echt wie im Leben. Und trotzdem ist alles falsch. Woran liegt das? Wie kann das sein? Es liegt an den Fragmenten. Wir tragen nur einen kleinen Teil unseres Lebens und unserer Persönlichkeit in das Internet hinein. Manchmal unsere Freude, manchmal unsere Sorgen, manchmal unsere Lebenssituationen. Aber wir bestehen nicht nur aus Freude, wir bestehen nicht nur aus Sorgen, wir bestehen nicht nur aus Lebenssituationen. Wir bestehen auch aus Alltag, wir bestehen auch aus Streit, wir bestehen auch aus Vergangenheit. Diese Seiten bringen wir nicht in das Internet hinein. Manchmal geschieht das bewusst, manchmal geschieht das unbewusst. Das Internet erhält kleine Teile aber keine vollständige Kopie. Die fehlenden Seiten machen aber den ganzen Menschen aus. Vereinzelt verhält es sich auch umgekehrt. Wir bringen Seiten in das Internet hinein, denen wir im echten Leben aus vielerlei Gründen keinen Platz einräumen können.

Diese Differenz macht den Unterschied. Sie macht den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und dem Kopfbild der Anderen. Natürlich wissen wir, dass hinter all den Netzidentitäten ein vollständiges Leben steht. Ein Leben mit Höhen und Tiefen. Ein Leben mit Stärke und Deformation. Ein Leben mit Glanz und ohne Glanz. Und trotzdem verbinden wir all die kleinen Mosaiksteine immer wieder falsch. Wir nehmen die Minimalinformationen, die wir haben, und bauen uns darauf eine ganz persönliche 360 Grad Perspektive auf. Wir werden dabei nicht belogen, sondern wir sind unser eigenes Opfer durch Selbstbetrug.

Das echte Leben

Und genauso oft betrügen wir uns im Real Life. Wir sehen Fragmente, Ausschnitte und Fassaden. Daraus drehen wir in unserem Kopfkino einen falschen Film.

Jeder kennt das perfekte Paar. Ein Paar, wo einfach alles zusammen passt. Hübsch, ausgeglichen und glücklich. Nicht nur jeder für sich, sondern beide auch als Einheit zusammen. Zwei fröhliche Kinder, das Familienhaus im Bau, der Kombi vor der Haustür. Alles greift ganz wunderbar ineinander. Alles baut aufeinander auf. Beinah wie in einem Märchen. Wenn die Kinder eine Nacht bei Oma und Opa verbringen, dann jagen sich die Zwei nackt durch die Wohnung und besorgen sich es gegenseitig in jedem Zimmer. Das ist nicht echt, das ist unser Kopfkino, das ist die Annahme in unseren Gedanken. Was wir nicht sehen, sind die Depressionen der Frau, ausgelöst durch eine frühe Abtreibung in der Jugend. Was wir nicht sehen, ist sein unterdrückter sexueller Fetisch, worunter er täglich leidet. Was wir nicht sehen, dass jeder mit seinem Päckchen in warmer Zweisamkeit alleine ist.

Wir sind selten zufrieden mit den Wegen, dir wir gehen. Die Richtung stimmt, aber die Performance reicht uns oft nicht aus. Was uns nicht gelingt, gelingt dafür den Anderen, beispielsweise dem erfolgreichen Kollegen. Schritt für Schritt steigt er die Karriereleiter hinauf. Gefühlt steht jedes Jahr ein neues Auto vor seiner Haustür. Auch die Gehaltsabrechnung kennt nur eine Richtung, die Richtung nach oben. Er ist immer unterwegs, nicht nur hierzulande, sondern auch international. Bei soviel Esprit kommt das eigene Selbstbewusstsein im Vergleich schon mal ins Wanken. Dabei bräuchte es das gar nicht. Denn wir sehen hier nur die schönen Seiten. Wir sehen nicht die Einsamkeit abends in der Hotelbar. Wir sehen nicht die Antriebsschwäche am Morgen. Wir sehen nicht die Leere, die hinter all dem steht. Die Kompensation des tödlichen Unfalls seiner geliebten Frau.

Die Differenz zwischen Sein und Schein findet man auch sehr oft in der eigenen Familie. Jedes Familienmitglied zeigt nach innen ein anderes Gesicht als nach außen. Der Vater ist unter Kollegen sehr beliebt. Man schätzt sein umfangreiches Wissen und seine permanent gute Laune. Die Menschen fühlen sich in seiner Nähe wohl. Dieses Bild kennen wir aber gar nicht, denn in der eigenen Familie ist er das Gegenteil. Er ist ungerecht, aggressiv und unselbstständig. Alles ist komplett gedreht, als ob der Mensch ein völlig anderer wäre. Aber es ist der gleiche Mensch, nur an einem anderen Ort.

Es gibt so viele Persönlichkeiten, die andere Menschen mit ihrer Lebenslust anstecken. Sie machen das Leben reich. Sie machen das Leben wertvoll. Sie machen das Leben schön. Diese Menschen sind immer ein Geschenk. Sie zünden uns permanent an. Mit Humor. Mit Ideen. Mit Leben. Und ein bisschen, ja ein bisschen, beneiden wir sie auch. Schließlich, was man selbst nicht hat, das kann man auch nicht geben. Und wir hätten auch gerne diesen inneren Reichtum. Und viel zu oft bleibt dieser innere Reichtum für den Betroffenen selbst verschlossen. Im Gegenteil, der Reichtum ist manchmal ein Meer von quälenden Fragen und im Mittelpunkt dieser Fragen steht, macht das Leben überhaupt noch Sinn? Und irgendwann hat die Welt eine Seele weniger und wir fragen uns alle, warum.

Ja, diese Bilder sind stark überzeichnet. Und natürlich möchte diese Überspitzung nicht die Existenz des Gegenteils absprechen. Es gibt Menschen, die erwischen diese besondere Welle, die rundherum glücklich und erfolgreich durch das Leben trägt. Die richtige Rezeptur, um Tiefschläge oder deren Narben zu vermeiden, sie existiert. Aber trotzdem finden wir daneben auch die gezeichneten Bilder in unterschiedlicher Prägung im Wirkungsfeld unseres eigenen Lebens wieder. Und nicht nur das, wir sind diese Menschen, wir sind niemals gleich, wir sind immer verschieden.

Alles ist Real Life, Real Life ist Fake Life, alles ist Fake Life

Gibt es überhaupt das echte, wahre und vollständige Bild? Nicht nur für die Anderen, sondern auch ganz konkret für dich und mich persönlich. Was ist überhaupt Identität? Und wer bestimmt über meine Identität? Ist es das, was ich denke? Oder ist es das, was der Andere denkt? Oder ist es das, was ich denke, dass der Andere über mich denkt?

Nur, jeder denkt etwas anderes über mich. Weil jeder andere Seiten von mir kennt. Niemand hat das ganze Bild. In der logischen Konsequenz würde dies bedeuten, dass sich meine Identität ständig in der Wechselwirkung zu meiner Umwelt verändert. Sie ist also permanent im Fluss. Ich bin nicht nur das, sondern auch solches und jenes. Zusätzlich ist meine innere Annahme über mein Bild im Kopf der Anderen in der Regel verkehrt. Deswegen sind wir auch oft überrascht, wenn uns jemand offen reflektiert. Wenn man diesen Gedanken weiter denkt, kann man daraus folgern, dass wir unsere eigene Identität also falsch begreifen und damit gar nicht mehr bei uns selbst sind oder jemals bei uns waren.

Wer bist du? Wer bin ich? Was sind wir zusammen? Diese Frage ist also auch im echten Leben genauso kompliziert wie im Internet. Alles, was wir sehen, ist letztlich nur Fake. Ein Fake unserer eigenen Gedanken, unserer Annahmen, unserer Gefühle. Der Fake lässt sich weder vermeiden noch überwinden. Den ganzen Menschen zu verstehen bleibt auf immer eine Utopie. Das gilt für uns selbst genauso wie für den anderen. Eigentlich ist die Frage auch nicht so wichtig, wer wir sind. Wichtig ist die Zeit, die wir hier und jetzt verbringen. Wir sind immer mehr und anders und größer und schöner und tiefer als in diesem Augenblick. Kein Mensch und keine Zeit kann uns einfangen, wir sind schneller, wir sind weiter, wir sind höher, wir sind frei.

Über den Autor
Marco Hitschler wohnt in Mannheim und schreibt auf diesem Blog beliebige Texte in das Internet hinein. Sein Handwerk ist die Informatik und beruflich arbeitet er im Projektmanagement. Wenn man einmal mit dem Bloggen angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören. Furchtbar! Infolgedessen wird auf diesem Blog ganz kunterbunt in verschiedenen Formaten publiziert.
3 Kommentare
  1. Henrik Neumann 31. August 2014

    Hallo Marco,

    ich bin durch Zufall auf deinen Text gestoßen und finde ihn echt Klasse. Ich habe eine Internetseite (fake-people.de) ins Leben gerufen, um Anderen zu helfen. Es gibt viele Menschen die auf einen Fake reingefallen sind und danach in ein tiefe Loch fallen, sie werden depressiv und haben manchmal sogar Selbstmordgedanken. Ich konnte schon Einigen Menschen helfen aus dieser schlimme Lage zu kommen, weil ich selbst auch durch gemacht habe.
    Ich würde gerne deinen Text auf meiner Seite zeigen…
    Grüße aus dem Norden,
    Henrik Neumann
    http://www.fake-people.de

  2. marco 3. September 2014

    Hallo Henrik.

    Ich hatte ganz vergessen, hier auf deinen Kommentar zu antworten. Der Kern meiner Abhandlung oben geht eigentlich in eine andere Richtung. Zum Glück liegt es aber in der Freiheit und Macht des Lesers seine eigene Interpretation anzuwenden. Dein Anliegen haben wir ja jetzt zwischenzeitlich auf anderem Weg besprochen. Ich möchte dir aber an dieser Stelle noch viel Erfolg bei deinem Projekt wünschen.

    Schöne Grüße
    Marco

  3. Grundsätzlichkeiten & Blogrollupdate | Zurück in Berlin 8. Oktober 2014

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