Notfall im Zug

Vor ein paar Monaten habe ich Heike in Köln auf ein Abendessen besucht. Wenn ich nach Köln fahre, bleibe ich meistens über Nacht, aber dieses Mal wollte ich am selben Abend wieder zurück, damit sich der nächste Tag nicht so zerstückelt. Ich stand also am späten Samstagabend an den Gleisen und freute mich auf eine ruhige Zugfahrt durch die Nacht. Der Zug war dann leider sehr voll, weil Bayern München in Köln gespielt hatte und die ganzen Fans wieder nach Hause mussten. Der FC Bayern München hatte den 1. FC Köln mit 3:0 besiegt und die Fans waren guter Laune. Trotzdem war es eine sehr angenehme Fahrt.

Die letzte Station vor Mannheim war der Frankfurter Flughafen. Ich begann mich langsam auf die Ankunft in Mannheim und die Rückkehr in meine Wohnung zu freuen. Aber dann kollabierte während des Halts am Frankfurter Flughafen nur wenige Meter von mir entfernt ein Passagier und fiel leblos zu Boden. Seine Begleiterin versuchte sofort ihn bei Bewusstsein zu halten und schlug abwechselnd auf seine Wangen. Ein anderer Passagier informierte sogleich den Zugbegleiter. Die Deutsche Bahn führt in der Regel keine Sanitäter mit im Zug. Auch die Zugbegleiter sind nicht gezielt medizinisch ausgebildet. Nach dem Protokoll wird in solchen Situationen über die Sprechanlage nach einem Arzt unter den Passagieren gefragt. Im Fernverkehr ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sich ein Arzt im Zug befindet. Und tatsächlich, nach wenigen Minuten war zwei Ärzte und eine Krankenschwester vor Ort. Die machten sich gleich an die Arbeit. Derweil stand der Zug.

Illustration: ICE am Bahnhof

Nach 20 Minuten waren auch die Sanitäter des Frankfurter Flughafens vor Ort. Der Wagenabschnitt wurde provisorisch in eine Art mobilen OP umfunktioniert. Der Patient bekam mehrere Infusionen und die Infusionsbeutel wurden im Zug an der Gepäckanlage angehängt. Über die ganze Zeit erhielt der Patient fortlaufend eine Herzdruckmassage. Das ärztliche Team funktionierte wie ein Uhrwerk. Jeder wusste, welche Aufgaben er hatte. Jeder gesprochene Satz hatte eine Funktion. Alle Hände gingen ineinander. Die Stille im Wagen wurde neben den Anweisungen des leitenden Arztes nur durch den Defibrillator durchbrochen. Aus Sicherheitsgründen gab das Gerät vor jedem Stromschlag die Phrase „Bitte vom Patienten wegtreten“ über eine natürliche Stimme aus. Als nach weiteren 20 Minuten keine Besserung eintrat, wurde von der Polizei ein Sichtschutz um den Patienten installiert und die Sanitäter fuhren fort.

Der Zug blieb stehen. Nachts am Frankfurter Flughafen. Der Patient war nicht transportabel. Viele Passagiere stiegen aus und wechselten in nachfolgende Züge. Ich vertrat mir zwischendrin die Beine und rauchte eine Zigarette am Bahnsteig. Mental konnte ich die Situation nicht wegabstrahieren und mir war innerlich ganz anders. In diesen Minuten wurde mir bewusst, dass wir alle unsere Aufgaben haben, damit das große Ganze funktioniert. Der Arzt sorgt für unsere Gesundheit. Der Zugführer fährt uns quer durch Deutschland, damit wir nach Hause kommen. Die Polizist sorgt für Ordnung, damit kein Chaos entsteht. Der Bäcker verkauft Backwaren, damit wir morgens frühstücken können. Und sogar die Kulturszene ist wichtig, damit wir Zerstreuung, Inspiration und Widerspruch finden. Zwischen all dem Schaffen habe ich mich gefragt, was meine Aufgabe ist und welchen Beitrag diese Aufgabe leistet. Und in dieser Situation konnte ich die Frage für mich nicht zufriedenstellend beantworten.

Irgendwann war der Patient soweit stabilisiert, damit man ihn transportieren konnte. Der Rettungswagen wartete schon lange abfahrbereit. Fast unmerklich löste sich die Situation auf. Polizei, Sanitäter und Bahnmitarbeiter eilten zu ihren nächsten Aufgaben und örtlich schien es beinah so als wäre nichts gewesen. Nach eineinhalb Stunden am Frankfurter Flughafen rollte der Zug wieder langsam an und fuhr weiter durch in die Nacht.

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